Susan Sontag: Photocritic

Michael Netsch

Susan Sontags Werk On Photography wird gemeinhin als eines der einflussreichsten Werke zum Thema Fotografie bezeichnet. Sontag konstruiert hier eine Welt, die durch die Flut an Fotografien, die im Umlauf sind, eine Ethik des Sehens entwickelt. Das heißt, fotografische Bilder lehren uns einen visuellen Code: Was ist es wert angeschaut zu werden. Natürlich Dokumente einer vergangenen Realität: einer, die sich der Fotograf angeeignet hat.

Allgemein glaubt man von Fotos, dass man auf einem fotografierten Bild genau das zu sehen bekommt, was man auch gesehen hätte, wenn man zu jenem Zeitpunkt an demselben Fleck wie der Fotograf gestanden hätte. Eine Fotografie gilt als Beweis, dass sich eine Begebenheit tatsächlich so abgespielt hat. Mit Hilfe von Fotos wird ein Ereignis für den Betrachter realer, als wenn er niemals Bilder dazu gesehen hätte. Allerdings konstatiert Susan Sontag auch, dass-je mehr Bilder es von einem Ereignis zu sehen gibt-das Ereignis eher wieder als weniger real gesehen wird: "As much as they create sympathy [.] photographs shrivel sympathy" (Regarding 105). Sontag konstatiert eine Haupttendenz in kapitalistischen Ländern: die Tendenz, moralisches und gefühlsmäßig bedingtes Unbehagen zu unterdrücken, mindestens aber zu reduzieren. Sie macht dafür aber nicht nur Kriegsberichterstattung oder Nachrichten verantwortlich sondern vor allem die anspruchsvolle Kunst:

Much of modern art is devoted to lowering the threshold of what is terrible. By getting us used to what, formerly, we could not bear to see or hear, because it was too shocking, painful, or embarrassing, art changes morals-that body of psychic custom and public sanctions that draws a vague boundary between what is emotionally and spontaneously intolerable and what is not. The gradual suppression of queasiness does bring us closer to a rather formal truth-that of the arbitrariness of the taboos constructed by art and morals. (On Photography 40)

Das heißt, die Kunst ist für unsere Fähigkeit verantwortlich, Bilder, die eigentlich Entsetzen hervorrufen, besser zu verdauen. Aber diese Vertrautheit mit Bildern der Grausamkeit verstärkt gleichzeitig eine Entfremdung vom Dargestellten: "As much as they create sympathy, photographs cut sympathy, distance the emotions. Photography's realism creates a confusion about the real which is (in the long run) analgesic morally as well as (both in the long and in the short run) sensorically stimulating" (Sontag, On Photography 110). Am Ende ihres Buches plädiert Susan Sontag für eine sogenannte "ecology of images" (On Photography166), einem bewussten Gebrauch und Verbrauch von Bildern, da diese die Realität zum Schatten machen.

In ihrem Buch Regarding The Pain Of Others von 2003 widerlegt sie diese These. Ausgangspunkt in On Photography war, dass die öffentliche Aufmerksamkeit durch die Medien gelenkt wird. Ein Krieg oder eine Katastrophe wird erst real, wenn es Fotos davon gibt. Außerdem stellt Sontag eine an Bildern hyper-gesättigte Welt fest. Diese Sättigung wirkt sich negativ auf die Wirkung des Bildes aus: Wir werden abgestumpft. Doch wie, fragt Susan Sontag, sollte die von ihr geforderte ecology of images an diesem Zustand etwas ändern? Ihrer Meinung nach gar nicht: "There isn't going to be an ecology of images. No Committee of Guardians is going to ration horror, to keep fresh its ability to shock. And the horrors themselves are not going to abate" (Regarding 108). Wie soll so eine Ökologie in der Praxis ablaufen? Bilder von Gewalt einfach nur noch einmal die Woche konsumerien und dann klappt's wieder mit dem Schockiertsein und der Empathie? Sontag kritisiert postmoderne Theorien, nach denen die Realität tot ist, weil sie schon komplett durch Bilder ersetzt sei. Ihrer Meinung nach beachtet diese These nur die kleine Anzahl von Menschen, die es sich leisten kann, Nachrichten als Unterhaltung anzusehen. Gleichzeitig wird behauptet, es gäbe kein echtes Leid auf der Welt.

Susan Sontag meint, eine solche Kritik an Kriegsbildern, wie sie sie selbst auch aufgestellt hat, kann nur aus zwei Ecken kommen: erstens von Zynikern, die noch nie auch nur in der Nähe eines Krieges waren und zweitens von Kriegsmüden, die das Elend ertragen müssen, das fotografiert wird. Doch gerade letztere Gruppe will ja auch, dass Bilder veröffentlicht werden: "Victims are interested in the representation of their own sufferings. But they want the suffering to be seen as unique" (Regarding 112). Als gutes Beispiel dienen hier Bilder des New York des 11. September 2001. In diesem Ereignis und der Flut an Bildern dazu erreicht wohl die Diskrepanz zwischen der Forderung nach mehr Fotos und der Kritik an diesem Anspruch ihren bisherigen Höhepunkt.

Einen wichtigen Platz in diesem Sammeln von Bildern des Ereignisses stellt die Ausstellung Here Is New York dar. Sie trägt den Untertitel A Democracy Of Pictures zu Recht. Die Veranstalter suchten Fotos des Ereignisses in der ganzen Welt. Jeder Mensch konnte Fotos einreichen und von jedem Fotografen wurde mindestens ein Werk ausgestellt. Der Name des Künstlers wurde dem Besucher erst dann eröffnet, wenn er sich dazu entschloss, eines der Bilder zu kaufen. Ein gewöhnlicher Betrachter der Fotos kann, genauso wie ein Besucher der Ausstellungsseite im Internet (www.hereisnewyork.org) nur vermuten, welches Bild aus einer privaten Schnappschusssammlung stammt und welches von einem sogenannten Fotokünstler geschaffen wurde.

Für uns ist klar: das Bild des normalen Beobachters wird hier ein Schnappschuss sein. Eine verwackelte Momentaufnahme minderer Qualität. Dass sie objektiv einen Moment der Wirklichkeit darstellt steht außer Frage. Durch unsere Erfahrung mit Katastrophenbildern sind die Fotos schlechterer Qualität auf jeden Fall auch die realistischeren, wohingegen die Bilder der etablierten Fotokünstler wohl durch eine hohe Stilisiertheit und Komposition ihren Sinn und Zweck erkennen lassen. Was aber nicht bedeutet, dass die Bilder der Amateure realistisch dafür aber hässlicher und die Bilder der Profis schöner sind, dafür aber keinen Informationsgehalt transportieren. Susan Sontag bestätigt dies-angestachelt durch den Titel Democracy of Pictures-in ihren beiden Essays: Die Fotografie ist die einzige Disziplin, in der dem Künstler nicht unbedingt ein bestimmtes Training oder jahrelange Erfahrung zum Erfolg verhilft, sondern Aspekte wie Glück und Zufall eine wesentlich wichtigere Rolle spielen: "an unassuming functional snapshot may be as visually interesting, as eloquent, as beautiful as the most acclaimed fine-art photographs. This democratizing of formal standards is the logical counterpart to photography's democratizing of the notion of beauty" (Sontag, On Photography 103). So ist der Betrachter der Bilder bevor er sich eines gekauft hat ganz auf sich gestellt, die Qualität dieser Fotos zu bestimmen.

Ein weiterer Aspekt der Ausstellung Here Is New York, der eine "demokratische" Interpretation der Fotos so offen wie möglich macht, ist die Tatsache, dass die Bilder keine Titel besitzen. Ob man eine Fotografie als das sieht, was sie darstellen soll (wenn man davon überhaupt sprechen kann), hängt meist von den Titeln, also von Sprache ab. Die konsequente Verweigerung der Veranstalter von Here Is New York lässt jegliche Auslegung zu. Schon in On Photography deutete Susan Sontag diese These an. Sie konstatierte, dass-ganz im Gegensatz zur Malerei-bei der Photographie das "Was" im Vordergrund steht. Formale Qualitäten des Stils sind sekundär. Diese Wichtigkeit des "Was" hat aber auch zur Folge, dass wir nicht wissen, "Wie" wir auf ein Foto reagieren sollen, solange wir seinen Gegenstand nicht kennen. Eine Bildunterschrift würde nur eine von vielen Interpretationen offenbaren. Diese könnte im Lauf der Zeit durch Missdeutungen (absichtlich oder unabsichtlich) untergraben werden. Susan Sontag schreibt zu den New York Bildern: "[...] one Day captions will be needed [...]. And the misreadings and the misrememberings, and new ideological uses for the pictures, will make their difference" (Regarding 29). Das heißt, wir sind in der glücklichen Lage, die hier besprochenen Bilder ohne Titel zu lesen. Unser Blick ist in dieser Hinsicht auf jeden Fall nicht eingeschränkt.

Im ersten Bild (Nr. 0785) fallen große Partien schwarz auf.1 Der Hauptgegenstand, eine Frau im Zentrum des Bildes wurde im Gegenlicht aufgenommen. Von ihr sind bis auf wenige Ausnahmen hauptsächlich die Konturen wahrnehmbar. Weiter im Hintergrund befindet sich der einzig wirklich farbige Gegenstand des Bildes: eine rote Ziegelstein-Mauer, vermutlich die Brüstung eines Balkons. Im Hintergrund sehen wir die Skyline von New York mit diversen Wolkenkratzern und natürlich auch das brennende World Trade Center. Dies ist mit seinen blassen Farben und dem Rauch kaum vom grauen Himmel zu unterscheiden. Das eigentlich Wichtige, eben das gerade kollabierende Gebäude, nimmt eine eindeutig minderwertige Stellung in der Bildkomposition ein. Dem Rauch nach zu urteilen verdeckt die telefonierende Frau sogar noch den zweiten Turm des World Trade Center.

Im Bild dominieren senkrechte Linien. Die Balkontür bildet einen Rahmen um das essentielle Geschehen. Die Twin Towers und auch der Körper der Frau bilden gerade Linien. Bei ihr geht die Linie von ihrem linken Bein nach oben bis zum Kopf. Ihre Körperhaltung allerdings vermittelt Instabilität. Der rechte Fuß ist nur locker neben den Linken gestellt, das Bein ist angewinkelt. Um in dieser Position noch gerade zu stehen bedarf es des Abstützens mit dem rechten Ellenbogen. Ihre Haltung vermittelt etwas instabiles, ähnlich der Instabilität der Twin Towers in jenem Moment. Die einzige Bewegung im Bild ist die des Rauches. Er bewegt sich vom Zentrum des Fotos waagrecht nach links. Farblich sticht eigentlich nur die rote Mauer hervor. Die Farben des Himmels und der Hochhäuser finden sich in der Kleidung der Frau wieder. Die weiße bis graue Fläche des Türrahmens rechts im Bild wirkt selbst wie ein Wolkenkratzer. Das Bild besitzt keinen Titel aber aufgrund unseres umfangreichen Wissens über den 11. September und der dominanten Farbe rot entsteht leicht eine Assoziation mit Blut.

Versuchen wir, eine Art Geschichte in die Entstehung dieses Bildes zu legen, wirkt es wie ein Schnappschuss, wenn auch ein gut durchkomponierter. Das eigentliche Geschehen, die getroffenen Türme, sind im Hintergrund. Die telefonierende Frau im Vordergrund dominiert das Bild. Dafür ist sie schlecht beleuchtet und sie wendet dem Betrachter den Rücken zu. Vermutlich ist sie selbst so absorbiert von dem Spektakel vor sich, dass sie sich davon nicht abwenden kann. Ihr Blick (wenn man ihn so nennen kann) lenkt den unsrigen. Sonst würden wir das World Trade Center vielleicht gar nicht als solches wahrnehmen. Und doch reicht der Dame das einfache Betrachten nicht aus. Sie telefoniert gleichzeitig. Es ist anzunehmen, dass sie jemandem davon erzählt, was sie gerade sieht. Aus Berichten über den 11. September kennen wir die Geschichten von Opfern der Terroristen, die noch aus den entführten Flugzeugen ihre Verwandten anriefen. Ob die Dame auf dem Bild mit jemandem telefoniert oder jemanden zu erreichen versucht, der direkt von den Anschlägen betroffen ist, bleibt offen. Aber eigentlich reicht es ja auch schon, wenn jemand beim Betrachten des Fotos auf die Idee kommt, es könnte so sein. Susan Sontag hierzu: "Es gibt keine Möglichkeit, die allen Fotografien eigene Tendenz, ihren Sujets Wert zu verleihen, zu unterdrücken" (On Photography 30)

Auf jeden Fall scheint die Dame im Bild schockiert. Hierfür ist ihre rechte Hand auf der Stirn ein deutliches Zeichen. Der vermutete Schockzustand steht im krassen Kontrast zu der eigentlich entspannten Körperhaltung. Vielleicht ist unsere Telefonistin aber auch zu erschlagen, um noch gerade zu stehen und muss sich abstützen. Der feste aber doch möglicherweise instabile Stand der Frau kann mit dem derzeitigen Stand des World Trade Centers gleichgesetzt werden. Der von ihr verdeckte zweite Turm ist möglicherweise schon eingestürzt, genauso wie das abgeknickte Bein die Haltung der Frau schon etwas instabiler macht. Der Verlust des zweiten Standbeins würde auch sie kollabieren lassen.

Wenn man noch weiter gehen möchte, könnte man behaupten, dass die Geschichte, die sich im Türrahmen abspielt, das große Geschehen draußen noch mal im Kleinen abbildet. Ein eigentlich stabiler Gegenstand in einer instabilen Position droht zu kippen. Wenn er fällt, dann auf den Boden, in dem das Rot dominiert. Die Folge wäre in dieser Interpretation wieder Blut.

Susan Sontag schreibt in ihrem Buch Regarding the Pain of Others (das sich auch mit Bildern aus Here Is New York beschäftigt): "[...] we use what we know of the drama of which the picture's subject is a part" (30). Ohne unser Hintergrundwissen wäre dieses Foto wahrscheinlich wirklich nur: "Schöne Frau telefoniert auf Balkon." Wir würden das World Trade Center, von dem ja ein Turm verdeckt oder schon eingestürzt ist nicht als solches erkennen, wir würden den Rauch als Wolken oder Industrierauch abtun. Und wir würden keine große Tragödie in den Akt des Telefonierens legen. Fakt ist: Das Foto bietet viel Spielraum für Interpretationen. Gerade aufgrund seiner stringenten Durchkomponiertheit lässt sich viel entdecken. Ob es ein gut arrangierter Schnappschuss ist oder ein absichtlich gestelltes Foto sei dahingestellt.

Eine Sache, die für das Zufallsfoto spricht, ist der Bildausschnitt. Wieso ist im Bild noch der linke Teil jenseits des Türrahmens enthalten? Meiner Meinung nach gibt dieser Teil des Bildes keine zusätzliche Information. Eine fürsorglichere Rahmung hätte der Durchkomponiertheit den letzten Schliff gegeben. Aber im Falle eines gestellten Fotos bewirkt natürlich der amateurhafte Bildausschnitt eine zusätzliche Beglaubigung.

Das zweite Bild (Nr. 3026) hat einen ganz anderen Charakter. Wir sehen einen Mann, der auf eine leergefegten Straße auf die Kamera zurennt. Hinter ihm der Staub des zusammenstürzenden World Trade Centers. Durch die Bewegung im Bild, ein Aspekt, der im ersten Foto so gut wie gar nicht vorhanden war, wirkt es wesentlich spontaner. Die offensichtlich gefährliche Situation, in der der Fotograf sich während der Aufnahme befand verstärkt diesen Eindruck. Im Gegensatz zum vorherigen Bild, in dem eine Vielzahl von Objekten, verschieden Linien und Farben eine Menge Interpretationsmöglichkeiten eröffnete, ist dieses Foto hier sehr minimalistisch gehalten. Der Flüchtende sieht nach hinten. Der Blick des Betrachters wird auf die Staubwolke gelenkt. Sie nimmt alles ein. So eine Staubwolke, erst recht in dieser Größe, lässt sich schlecht stoppen. Und darin gründet auch schon der Hauptunterschied zum Bild vorher: Diese Aufnahme ist auch wirklich nur in genau diesem Moment möglich gewesen.

Außer dem Mann und dem Staub sind natürlich noch andere Dinge auf dem Bild zu sehen: Die Szene spielt sich auf einer leeren Straße ab. Aufgrund der gestrichelten Mittellinie kann man gut erkennen, dass der Mann im Bild und der Fotograf unseres Bildes beide ziemlich genau in der Mitte der Straße stehen. Der Mann kommt direkt auf uns zu. Dass er einen Fotoapparat um den Hals hängen hat, verleiht diesem Bild eine besondere Bedrohlichkeit. In wenigen Sekunden wird unser Fotograf ebenso vor der Staubwolke flüchten müssen, wie der Mann im Bild. Vielleicht hat dieser ein paar Sekunden zuvor ein Bild geschossen, das genau so aussah wie unseres, wenn man sich die Person im Zentrum wegdenkt.

Auffallend ist, dass wir in diesem Bild so gut wie keine Farbe haben. Die Wirkung in Schwarz-Weiß wäre dieselbe gewesen. Im Vordergrund sind rote Flecken auf der Straße zu erkennen. Natürlich könnte man wieder von Blut sprechen. Da die Flecken in dieser Momentaufnahme so gut wie gar nicht zu erkennen sind, gehe ich davon aus, dass sie nicht absichtlich im Bild sind.

Trotz der Schnappschussästhetik spricht etwas gegen die Aufnahme als die eines Amateurs: die gefährliche Situation in der sich der Fotograf befindet. Ein einfacher Tourist mit einer Kamera würde wohl eher versuchen, sich in Sicherheit zu bringen. Dass er aber stehen bleibt und auch noch daran denkt, ein Foto zu schießen lässt schon auf außerordentliche Kaltblütigkeit schließen. Andererseits spielen Gedanken an Ruhm und Geld natürlich auch eine Rolle. Ich erinnere nur an die Handy-Videos aus der Londoner U-Bahn, die vor einiger Zeit überall im Fernsehen ausgestrahlt wurden. In diesem Punkt lässt sich Susan Sontags These aus Regarding The Pain Of Others noch einmal gut belegen. Sind wir die Betroffenen einer Katastrophe ist es uns wichtig, möglichst viele Bilder von der Gefahr, in der wir uns befanden und von unserem Leid zu produzieren.

Sieht man sich die Kommentare zu den eben gezeigten Bildern auf der Hompage zu Here Is New York an, liest man öfters Zeilen wie "Dieses Bild drückt für mich genau das aus, was ich am 11. September gefühlt habe." Denkt man an diesen Tag einmal zurück, dann sind wohl die Emotionen der meisten Menschen durch Bilder ausgelöst worden-und genau diese Emotionen werden natürlich auch später beim Ansehen ähnlicher Bilder ausgelöst.

Baudrillard konstatierte, dass im Fall von 9/11 das Ereignis und die Bilder dazu ein und dieselbe Sache sind. Da man es bei Here Is New York aber natürlich mit ganz unterschiedlichen Bildern zu tun hat, die auch unterschiedliche Standpunkte und gegensätzliche Positionen aufweisen bleibt das Bild, das uns von dieser Katastrophe geboten wird differenziert. Ob unter dieser Masse von Fotos (insgesamt sind es über 5500) auch gestellte, inszenierte, stilisierte Bilder sind, spielt keine Rolle. Den Veranstaltern ging es darum, eine "broadest possible view of this event and its aftermath" (http://hereisnewyork.org/contact/factsheet.asp) zusammenzustellen. Und wie Susan Sontag feststellte: Fotografieren heißt Bedeutung verleihen.

Man kann beide Bilder als das Werk eines Profis oder das eines Amateurs lesen. Im ersten Foto mit der telefonierenden Frau spricht das hohe Maß an (vielleicht nur von mir so empfundener) Komposition für einen Profi-der unglückliche Bildausschnitt eher für die Aufnahme eines Laien. Im zweiten Bild verweist die Unmittelbarkeit, die durch die Bewegung und die dargestellte Gefahr ausgedrückt wird, auf einen Schnappschuss. Doch die Bedingungen während des Aktes des Fotografierens muss eigentlich ein Profi ausgehalten haben, um noch ein annehmbares Exemplar zu produzieren. Möglichkeiten zur Interpretation gibt es auf jeden Fall genügend. Gerade in punkto Blut habe ich mich beim ersten Foto aufgrund der restlichen Komposition verleiten lassen, in die rote Farbe etwas hineinzuinterpretieren. Im zweiten Bild scheint mir ein ähnlicher Gedanke eher absurd. Die nicht vorhandenen Titel zwingen den Betrachter schon fast dazu, seine eigenen Titel oder Kategorien zu entwerfen. In meinem Fall war Susan Sontag dafür verantwortlich, die Bilder in die Kategorien Amateur und Profi einzuordnen.

Was eine "ecology of images" angeht, hat der 11. September genau die These aus Regarding The Pain Of Others bestätigt. Sind die Leute, die sonst übersättigt von Gewaltbildern in Fernsehen und Zeitungen sind, selbst von einer Katastrophe betroffen, kann es nicht genug Bilder davon geben. Die Masse an eingereichten Fotografien für Here Is New York bestätigt dies. Andererseits wird dadurch ja nicht Sontags These aus On Photography aufgehoben, nach der Fotografien nur einen Augenblick in einem Zeitablauf darstellen und nicht zum Verständnis der Gesamtsituation helfen.

Sontags Problem liegt eher in der realitätsfernen Forderung einer "ecology of images". Der 11. September nimmt in ihrer Selbstkritik eine neue Stellung ein, denn genau die Bevölkerungsgruppe, auf die sich ihre Abstumpfungsthesen anwenden ließen, ist nun selbst das Opfer von Gewalt. Es treffen sozusagen beide Thesen zu, obwohl sie sich laut Sontag widersprechen. Die Bevölkerung verlangt nach immer mehr Zeugnissen ihres Leids, stumpft aber gleichzeitig durch die Flut an Bildern immer mehr ab.


1 Anmerkung der Redaktion: die hier erwähnten Bilder sind nach Eingabe der jeweils genannten Nummer über die Webseite zu betrachten (http://www.hereisnewyork.org/, Eingabefeld "view by number").

Verzeichnis der zitierten Literatur

Here is New York: A Democracy of Photographs. 2004. 15 Aug. 2005 <http://hereisnewyork.org/contact/factsheet.asp>.

Sontag, Susan. On Photography. New York: Farrar, 1978.

Sontag, Susan. Regarding the Pain Of Others. New York: Farrar, 2003.